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Autismus, Depression, Angststörung und Mutismus

 

Ich wusste bis dato nicht einmal, dass es einen Begriff für meine „Schüchternheit“ gibt: Mutismus. In meinem Fall wohl „selektiver Mutismus“. 1

 

Ich erinnere mich, dass ich seit meiner frühsten Kindheit extreme Angst hatte mit anderen Menschen zu reden, ich versteckte mich wortwörtlich hinter meiner Mutter.

 

Auch Sätze wie: „Sei doch nicht so schüchtern, ich tu dir nix!“, waren alles andere als hilfreich, sondern bedrängten mich noch zusätzlich.

 

Ich habe bis heute nicht verstanden, warum ich das nicht „ablegen“ kann, nicht mutiger oder gar selbstbewusster auf andere Menschen zugehen kann. Mir bleiben einfach in manchen Situationen und bei einigen Menschen, tatsächlich die Worte in der Kehle stecken. Mir ist es dann in diesen Situationen nicht möglich, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Es war sehr belastend und ängstigte mich noch mehr. Warum konnten es die andere Menschen, nur ich einfach nicht?

 

Ich hoffte in meiner Ausbildung und durch meinen ergriffenen Beruf im Verkauf, mehr auf Leute zugehen zu können. Einfach mit ihnen reden zu können. Ich dachte über die Jahre auch, dass ich das für mich geschafft hatte, denn ich antwortete und redete ja mit den Menschen, fühlte mich selbstbewusster. Doch jetzt sehe ich das alles aus einer ganz anderen Perspektive. Ich habe nicht gelernt mutiger zu sein, ich bin nicht selbstbewusster geworden.

Ich hab einfach nur gelernt, eine weitere Rolle in meinem Leben spielen zu müssen. Und zwar die einer Verkäuferin, die offen und kontaktfreudig sowie engagiert und hilfsbereit ist.

 

Wieder ein Schritt näher in die Depression, tiefer in die Angststörung, weiter weg von dem Menschen, der ich eigentlich wirklich bin, sein sollte.

 

Erst jetzt erkenne ich, warum ich nach der Arbeit immer so immens erschöpft war. So oft weinend auf meiner Couch lag und zu nichts mehr fähig war. Immer mehr den privaten Kontakt zu meinen „Freunden“ (mehr als gute Bekannte waren es ehrlich gesagt nicht) mied. Keine weiteren Aktivitäten mehr Platz in meinem Leben hatten, auch wenn ich es immer wieder und wieder versuchte. Mir fehlte einfach die Kraft, brauchte ich diese doch, um die Rolle auf Arbeit spielen zu können, um weiter funktionieren zu können.

Und gewisse Situationen und Menschen lassen mich nach wie vor sprachlos dem gegenüber stehen.

 

Mutismus, was ein seltsames Wort, ab und an mal gehört und gelesen, aber nie darüber nachgedacht. Bis ich gezwungenermaßen anfing mich mit mir auseinander setzen zu müssen.

 

Ich dachte immer, ich bin eben ein „Freak“ und ein riesiger Angsthase. Sei unfähig was an mir zu ändern, egal in welcher Hinsicht.

Da man ja „weiß“, dass man Ängste „nur entwickeln“ und somit auch wieder „ablegen“ kann, war es an mir, dies zu schaffen, wenn auch bitteschön allein, da ein Angebot des Helfens ausblieb.

 

Doch ich konnte und kann es eben nicht, wie sehr ich mich über die Jahre auch angestrengt habe, solange bis ich kapitulierte und als Konsequenz die Einsamkeit für mich vorzog. Wenn ich Situationen und Menschen meide, passiert das eben nicht.

 

 

Wieder ein Schritt näher in die Depression, tiefer in die Angststörung, weiter weg von dem Menschen, der ich eigentlich wirklich bin, sein sollte.

 

Mir war nicht bewusst, dass es Anlaufstellen für Menschen wie mich gibt, dass Therapien diesbezüglich existieren. Ich wusste ja bis heute nicht einmal, dass ich betroffen bin. In meiner Kindheit war es gern gesehen, ein liebes, gehorsames und braves Mädchen, welches zuweilen sehr schüchtern sein konnte, zu sein. Was solls, so war es eben. So ist es gefühlt heute noch.

 

Da kommt kein Arzt auf einem zu und sagt dir, dass da evtl. etwas Tiefgreifenderes in deinem Hirn anders funktioniert und du nun mal bist, wie du bist und egal wie sehr du dich im Leben auch anstrengen magst, es nicht zu ändern ist. Ich hörte nur all die Jahre, da ich so oft krank war, ich sei faul, hätte keine Lust in die Schule oder zur Arbeit zu gehen, wäre eine Heulsuse, zu schwach. Ich könnte endlos so weiter machen.

 

Erst als ich physisch und psychisch vollkommen zusammen brach, begann das große Rätselraten. Auch seitens der Ärzte. Ich recherchierte, belas mich über Depressionen, Angststörung und Autismus, ich hegte immer wieder den Verdacht, dass ich solche „Züge“ haben würde. Ich habe sehr viel geweint, weil es eine Welt eröffnete, in der ich sah, dass ich nicht mit meinen Gedanken und Gefühlen allein war. Dass es draußen tatsächlich andere Menschen gibt, die genauso unter ihrem Leben leiden, ohne zu wissen warum.

 

Und da mein Selbstwertgefühl praktisch nicht mehr vorhanden war, nicht mehr als eine leere Hülle meiner selbst, nahm all meinen letzten Mut und Kraft zusammen und erzählte meiner Ärztin von meinem Autismusverdacht. Was hatte ich noch zu verlieren? Da war nichts mehr, was mich noch tiefer hätte fallen lassen können. Und sie hörte mir zu, war sehr verständnisvoll, denn auch sie hegte bereits diesen Verdacht.

 

Also nun sind wir hier, mittendrin statt nur dabei oder so. Die Reise zu meinem Ich hatte nun offiziell begonnen.

 

Es ist, als würde auf einmal alles Sinn ergeben, das komplette Leben, mein komplettes Leben. Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, so sprudeln die Worte aus mir heraus. Ich will all diese Gedanken nicht mehr in meinem Hirn festhalten, fügen sie mir doch große Schmerzen und Leid zu. Nie Gehört, nie Gesehen und vor allem nie Verstanden zu werden.

 

Wie oft hab ich versucht mich mitzuteilen, zu erklären, eignete mir einen immensen Wortschatz an, nur, um immer wieder ungläubig und verständnislos angesehen zu werden. Wie oft sprach man mir meine Gefühle und Gedanken ab: „Das kann nicht sein!“, „Das bildest du dir nur ein!“, „Das tut nicht weh!“ „Das stimmt so nicht!“, und so weiter, und so weiter...

 

Bis ich endgültig aufhörte ich zu sein. 

 

Ich verdrängte über die Jahre meine komplette Existenz, anders kann ich es nicht sagen. Ich verdrängte mein natürliches Verhalten, meine Gefühle und Gedanken so sehr, dass ich es über die Jahre so tief in mir eingrub, dass ich alles vergaß. Ich erinnerte mich an nichts mehr aus meiner Kindheit, meine Jugend nur sehr vereinzelt. Ich hörte auf andere, wie ich mich fühlen sollte, wie ich mich zu verhalten habe. Immer mehr Rollen nahm ich ein. Die Lustige, die Freundliche, die Liebevolle, die Verständnisvolle, die Erwachsene, ach auch hier könnt ich ewig so weiter machen. Ich war alles und jeder, nur nicht ich.

 

Ich bin ein großer Film- und Serien-Fan und Sammler. Warum wohl? Spezialinteresse? Hab ich so gelernt wie man sich verhält, welche Mimik und Gestik man wann einsetzt?

Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wann ich mich selbst mal aus der Egoperspektive wahrnahm. Ich sehe mich immer aus einer Filmperspektive, immer von außen beobachtend, ob ich auch alles richtig mache. Jedes Gespräch, jedes Treffen, egal ob persönlich oder am Telefon, wird Stunden, Tage oder gar Monate lang geübt. Warum? Hab ich vergessen.

Die Panik die in mir hoch steigt, wenn ich einen vollen Raum oder Orte mit vielen Menschen betreten muss, ein Gespräch mit Vorgesetzten oder Telefonate führen muss. Warum? Ich hab es vergessen.

Veränderungen jeglicher Art stürzen mich in pure Verzweiflung. Warum? Ich weiß es nicht.

Unpünktlichkeit, laute Geräusche, grelles Licht und Gerüche können bei mir starke Heulkrämpfe auslösen, ohne dass ich auch nur den Hauch einer Kontrolle habe. Warum? Ich weiß es nicht.

Gespräche, Aufgaben, die nicht wortwörtlich oder präzise genug sind, verstehe ich nicht. Ich fühle mich dumm, weil ich diese Aufgaben nicht lösen kann, ratlos in meiner Position verharre. Warum? Ich weiß es nicht. Es gibt noch so viele Dinge und Situationen mehr, die meinen Alltag so unerträglich machen können.

 

Stellt sich da wirklich noch die Frage, warum ich depressiv geworden bin?

 

 

 

 

 

 

1Selektiver Mutismus (auch: elektiver Mutismusenglisch selective: „auswählend, punktuell“, elective: „wahlweise“, lateinisch mutus: „stumm“) bezeichnet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine emotional bedingte psychische Störung, bei der die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist. Selektiver Mutismus ist durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen gekennzeichnet. (Wikipedia)

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Kommentare: 1
  • #1

    joannamazing (Donnerstag, 27 April 2023 18:38)

    <3 <3 <3