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Sensorische und soziale Reizarmut - Entstehung von Depressionen

„Mittelgradige depressive Phase“ lautete einer meiner Diagnosen im Juli 2022. Lange verstand und akzeptierte ich dies nicht. Ich und depressiv? Ich hatte nie den Wunsch, mich selbst bewusst zu verletzen oder mir gar Schlimmeres anzutun, um aus dieser Welt zu scheiden. Hatte, nein habe, ich doch eine riesen Angst vorm Sterben. Ich hatte dasselbe Klischeedenken wie die meisten Menschen: „Diese Menschen sind immer traurig, pessimistisch und wollten sterben.“

Ich war nie so ein Mensch, ich wollte leben, genoss die Tage in der Natur, war, naja sagen wir, arrangiert mit meinem "Leben". Doch ich war immer ein Mensch, der verstehen musste, was da wie passiert und warum. Also belas ich mich und stellte mit Erschrecken fest, was für ein komplexes Thema dies doch ist. Und wie unrecht man diesen Menschen mit diesem Klischee tat. Jedoch wird mir jetzt erst klar, was da aus rein neurologischer Sicht für mich dahintersteckt. Klar verstehe ich die psychologische Seite, kann die emotionale Ebene auch nachvollziehen, jedoch reicht mir das einfach nicht. Mir fehlte immer dieser sogenannte "Missing Link", um es für mich vollends zu begreifen und dadurch effektiv daran und dagegen arbeiten zu können. Mir liegen eher die logischen Aspekte wie das Begreifen, warum etwas so ist wie es ist. Was war der Grund, welche Reaktion wird im Körper ausgelöst? Mir fehlte die Objektivität. Natürlich, denn mein Gehirn war einfach so vernebelt von all den negativen Gedanken, Ängsten und den daraus resultierenden, falsch verknüpften Nervenbahnen und Rezeptoren.

Ich verstand nie, warum es doch so wichtig sein sollte, soziale Kontakte zu haben, raus an die frische Luft zu gehen, aktiv zu sein. Bei mir ist es einfach so: Wenn ich etwas nicht ganz verstehe oder es nicht ansatzweise nachvollziehen kann, macht es für mich keinen Sinn und setzte es somit nicht um.

Ich verstand das Grundprinzip: Jahrelange negative Erfahrungen, dem Job immer gerecht sein und funktionieren zu müssen … . Mit der Zeit kann dieser sehr dunkle Gedankenstrudel einige in die Depression treiben.

Die Personifizierung der Krankheit hilft vielen Menschen es greifbarer zu machen und aktiv gegen eine vermeintliche „Person“ kämpfen zu können, dies erleichtert ungemein. Anfangs funktionierte das bei mir auch sehr gut, jedoch, umso tiefer ich für mich in das Gebiet der Krankheit vordrang, umso mehr verblasste diese „Figur“ und ich merkte, dass es mir nicht mehr half. Und wieder hatte ich das Gefühl, ich bin nicht depressiv, ich gehe doch raus. Die Gedanken waren auch nicht mehr die dunklen und vernebelnden Wirrungen wie zuvor.

Dann las ich über ein Experiment aus den 50er Jahren, dasStimulus-Deprivations-Experiment“. Es war, als würde sich auch hier der Schalter auf „Licht an“ in meinem Hirn stellen, wie bei der Erkenntnis, Autistin zu sein. Auf einmal machte alles Sinn für mich, das war mein „Missing Link“, um diese Krankheit für mich begreiflich und endlich akzeptabel zu machen.

Ja, ich habe Gefühle, nehme sie teils sehr intensiv (zu intensiv) war, jedoch hilft mir solch eine Emotionsebene nicht im Bereich des Verstehens und Begreifens. Diese Tatsache muss ich immer wieder feststellen. Ich kann mit Logik und wissenschaftlich belegten Tatsachen mehr anfangen, als mit Gefühlsduseleien. Ich könnte nicht mal die einfache Frage "Wie es mir geht?" beantworten.

Aber nun zu meiner, für mich bahnbrechende Erkenntnis:

In diesem Experiment ging es darum, wie Menschen reagieren, wenn man ihnen sensorische und soziale Reize entzieht. Also kein Kontakt zu anderen, kaum bis keine äußeren Einflüsse. Das Gehirn fing an zu halluzinieren, die Menschen wurden schwer krank, schwerst depressiv oder gar verrückt und/oder starben. Da begriff ich, unser Gehirn braucht äußere Reize, um effektiv arbeiten zu können, um leben zu können.

Dann verstand ich, warum ich depressiv wurde. Erschwerend kommt bei mir noch meine Reizfilterschwäche und der Autismus dazu. Und warum es so wichtig ist, an die frische Luft gehen, andere Menschen zu treffen und warum es einem danach psychisch besser zu gehen scheint. Weil unser Gehirn das braucht. Natürlich kommen noch ganz viele andere wichtige Faktoren hinzu, aber hier geht es um mein Leben und meine Erkenntnis für mich. Und es hilft mir gerade so sehr, daraus Motivation zu ziehen, mein Gehirn neu zu strukturieren, herausfinden welche Reize es braucht, um gut zu funktionieren, ohne dass es gleich wieder in einem Overload oder gar Meltdown endet.

Mir fällt es so schwer, dies in Worte zu fassen, da mein Gehirn gerade so voll von Erinnerungen ist, was alles zu dieser Depression führte.

Es ist wie ein riesiges Netz, welches sich langsam zu erkennen gibt und weitere Fäden kommen immer mehr zum Vorschein. Alles ist miteinander verbunden. Wie oft habe ich diesen Satz gehört und doch erst jetzt verstanden, wie komplex und essenziell das alles ist.

Und das Problem, warum man immer gegen die Depression arbeiten muss ist, dass das Gehirn sich zwar neu verknüpfen lässt, jedoch auch die alten Denkweisen immer noch vorhanden bleiben, sobald man aufhört achtsam zu sein, die alten Windungen wieder aktiv werden und das Gehirn es als leichter empfindet, daran wieder anzuknüpfen. Trotz jahrelangem Training hat man auch immer das Gefühl, dass es so schwer ist da rauszukommen und es immens viel Kraft kostet bei den neuen Strukturen zu bleiben. Das ist nicht nur Einbildung, es ist Tatsache. Somit verstehe ich auch besser, warum man immer wieder Episoden oder schlechte Tage hat. Es reicht ein Gedanke, ein Reiz zu wenig, was einem ja nicht bewusst ist, um in dieses Loch zu fallen. Wie oft hab ich mich gefragt, warum geht es mir heute so schlecht? Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass der Vortag vielleicht ein Tag war, an dem ich nicht rausging, negative Gedanken hatte oder gar zu spät ins Bett gegangen bin. Solche Kleinigkeiten reichen dem Gehirn, um sofort das Netzwerk der alten Denkweisen zu aktivieren und immens zu befeuern. Und ja, ich weiß, das ist meine persönliche Meinung, aber es macht für mich absolut Sinn, ist logisch und motiviert mich weiter dagegen anzukämpfen und hilft mir auch besser zu akzeptieren, warum es einem an gewissen Tagen wieder so schlecht geht, ohne mich ständig fragen zu müssen "Warum?".

 

 

26.04.2023

 

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